Alte-Schwestern-Netzwerke zur Sicherung der Göttinger Szene-Infrastruktur

Schon mitbekommen: ein neuer Trend geht um! Der Pleitegeier kreist nicht mehr nur über den privaten und Gruppenkassen, sondern neuerdings auch über den Konten unserer infrastrukturellen Einrichtungen: Der Buchladen braucht regelmäßige Soliwerbung und -kredite, der T-Keller druckt Rettungs-T-Shirts, der GöDru mangelt es an Geld für Papier und Druckerschwärze. Für Kampagnen reichen die Gelder meist noch, die Szene-Infrastruktur ist aber mittlerweile in Fortbestand gefährdet und das, obwohl unsere Infrastruktur weder aus teuren Hochglanzprodukten besteht, noch wenig genutzt wird. Eine Entwicklung, die es Ernst zu nehmen gilt, weil es um den drohenden Verlust einer spezifischen sozialen und politischen Gestaltungsfähigkeit der gesamten Szene geht.

Wobei die Finanzierungsproblematik nicht nur das Bestehende betrifft, sondern auch mögliche Erweiterungen unserer Infrastruktur. So bräuchte es einen Göttinger Solifonds für Repressionsschutz und auch einen offenen Raum innerhalb des Walls müsste man vielleicht mal organisieren – und finanzieren.

Doppelter Ertrag trotz null Profit

Göttingen ohne Buchladen, T-Keller, GöDru oder andere solcher Einrichtungen wäre ein ziemlich trostloses Pflaster. Diese Infrastruktur ist so wertvoll, weil sie soziale und politische Räume eröffnet, welche die engen thematischen und personellen Grenzen einzelner politischer Zusammenhänge überschreiten. Im Idealfall handelt es sich um offene Anlaufstellen des Lernens, für Begegnungen, Informationsaustausch, Diskussionen und solidarische Unterstützung. Eine ‚gemeinsame’ Einrichtung schafft einen öffentlichen Raum, der mehr ist, als die Umfelder der einzelnen Zusammenhänge und sie repräsentiert die gesamte Szene nach außen. In Göttingen wird dadurch sichtbar, was in den meisten Städten in private, schwer zugängliche Nischen gedrängt ist.

Sicher sollte man nicht davon ablenken, dass viele Formen von Szene-Öffentlichkeit denkbar, vorhanden und verteidigungswert sind, etwa Demos, Plena, Groß-WGs, Wagenplatz, JuZI, Veranstaltungen. Auch wäre es vermessen zu behaupten, T-Keller oder Buchladen wären wirklich immer in der oben dargestellten Weise offen und kommunikationsfördernd. Immer droht auch soziale Kontrolle, Ausschluss, die Etablierung von Zugangshierarchien etc. Aber kein Buchladen ist dafür auch keine Lösung! Ohne Buchladen und die damit verbundene Möglichkeit für Einzelpersonen und Gruppen an den verschiedenen linken Diskursen, die sich bundes- und weltweit vor allem auch über die jeweilige neueste Literatur modernisieren, dranzubleiben und weiterzudenken und zu handeln würde Göttingen der Absturz in die Zweitklassigkeit drohen.

Wir sollten mal über Geld reden

Also, so unsere Schlussfolgerung, muss das Finanzierungsproblem – zumindest bis zur erfolgten Abwicklung der Warengesellschaft – gelöst werden. Staatskohle gibt es nicht und erpressbar macht sie auch. Aber, Krise des Kapitalismus hin oder her, es gibt trotz um sich greifender Verarmung noch Leute, die verdienen und Geld haben. Und (Ex?) GöttingerInnen gibt es dergleichen dank der universitären Ausbildungsfabrik sogar sehr viele. Und auch ohne Studium bekommen die meisten zur Zeit noch gut oder zumindest durchschnittlich bezahlte Jobs. Oft verlassen sie dafür die Stadt, gehen den schweren Gang durch die T-Keller- und GöDru-freien Wüsten. Im Gepäck haben sie neben einem Uni-Abschluss – wenn es gut gelaufen ist – auch eine grundsolide Ausbildung als GesellschaftskritikerIn, StraßenkämpferIn, Politnik, BündnisschmiederIn, RedakteurIn u.ä.. Das eröffnet Horizonte und nicht selten macht es sich sogar bezahlt. Und das Besondere dabei ist, dass diese Ausbildung zum großen Teil kostenlos war: keine Aufnahmerituale, keine Prüfungen, keine Mitgliedsbeiträge. Und so soll es auch bleiben, kein Clubbeitrag im T-Keller, kein Druckkostenzuschuss für Artikel in der GöDru und keine Gebühr für ein Postfach im Buchladen – keine finanziellen Hürden für linksradikales Engagement. Trotzdem muss Geld her und zwar ausgerechnet für die Einrichtungen, die allen und niemandem gehören, wo es weder eindeutige Verantwortliche, noch einen genau begrenzten Kreis von NutznießerInnen gibt.

„Alte Schwestern“, Junge, Einkommenslose sind gemeinsam stark

Wir sollten von den Drecksburschies lernen. Ihr repressives Zugangs- bzw. Ausschlusssystem für die gesellschaftlichen Eliten ist ekelhaft, ihr Finanzierungsmodell allerdings schlau. Wer Geld hat zahlt, wer (noch) keins hat, profitiert und alle gemeinsam sichern sich so Macht und Einfluss. In unserem Fall müsste man das Wort Macht durch Kampfkraft ersetzen weil wir ja die Macht- und Herrschaftsfreie Gesellschaft zum Ziel haben. Bei den Drecksburschis gibt ein „alter Herr“ dafür im Jahr mehrere hundert Euro zum Erhalt und Ausbau elitärer, reaktionärer, sexsistischer, nationalistischer und rassistischer Strukturen.

Und bei uns gilt „nach mir die Sintflut“ und die Einbauküche??? Das ist wenig überlegt und muss angesichts der finanziellen Lage der linken Infrastruktur und der gesellschaftlichen Gesamtsituation dringend verändert werden. Wir sollten Alte-Schwestern-Netzwerke aufbauen und unsere Infrastruktur dauerhaft absichern – denn „alte Herren“ gibt’s schon genug.

Mitglied werden im Alte-Schwestern-Netzwerk können alle, die regelmäßig einen Beitrag leisten. Wie hoch der ist, kann sich jedeR selbst überlegen – nur regelmäßig sollte er kommen. Wir denken, dass Leute mit einem AkademikerInnengehalt locker 10 oder 20 Euro im Monat über haben, viele mehr, manche weniger. Das Geld geht dann auf das Konto des Netzwerks und kommt der jeweiligen Einrichtung die gerade auf der Prioritätenliste oben steht zu Gute.

Das große Problem dabei ist natürlich, dass man potentielle Alte Schwestern – egal welcher geschlechtlicher Couleur versteht sich – ansprechen muss. Es muss Überzeugungsarbeit geleistet werden, mit der Weiterleitung einer E-Mail ist es nicht getan. Nach unseren Erfahrungen muss man die Leute im Schnitt vier Mal anrufen oder anders persönlich anquatschen, bis sie den Dauerauftrag auch wirklich einrichten! Das kann keine zentrale Task-Force machen, sondern alle Gruppen und Einzelpersonen müssen ihre Kontakte eigenständig nutzen und systematisch vorgehen. Leute, die jetzt noch aktiv bzw. in Göttingen sind, werden natürlich auch angesprochen. Es muss im Laufe der Zeit einfach zum Standard werden, einem oder mehreren Alte-Schwestern-Netzwerken anzugehören, ebenso wie mensch politische und persönliche Kontakte pflegt, Steuern zahlt oder zur Demo geht. Stellen wir uns und unseren ehemaligen Weggefährten die Frage: „Willst Du, dass es in Göttingen für die Jungen oder einkommenslosen Schwestern die gleichen Möglichkeiten gibt, wie Du sie nutzt oder genutzt hast?“ Wenn ja, braucht es einen verschmerzbaren finanziellen Beitrag – so ist leider die Lage.

Netzwerke müssen organisiert sein

Die Suche nach Alten Schwestern ist sicher das Hauptproblem – man profitiert ja als Einzelperson oder Politgruppe nicht direkt davon. Ein anderes Problem ist die Organisation der Netzwerke selbst. Wir haben vier Punkte identifiziert, von denen wir meinen, dass sie geklärt sein müssen, wenn ein Netzwerk erfolgreich sein will.

Zunächst muss ein klares, erreich- und nachprüfbares Ziel angegeben werden, d.h. es muss festgelegt werden wofür das Geld verwendet wird und wie viel benötigt wird. Ohne das dürfte es schwierig sein, potentielle Alte Schwestern zu überzeugen. Ist das Ziel erreicht, löst sich das Netzwerk auf oder vereinbart ein neues Ziel. Zweitens braucht es ein Maximum an Transparenz der Zahlungsströme. Für alle Alten Schwestern muss nachprüfbar sein, was mit dem Geld geschieht – es besteht eine Rechenschaftspflicht der KontoverwalterIn und der jeweiligen Institution. Anonym lässt sich so ein Netzwerk also nicht betreiben, per Post, Mail o.ä. muss der/die KontoverwalterIn erreichbar sein – auch wenn da in der Praxis möglicherweise selten drauf zurück gegriffen wird. Drittens braucht es eine regelmäßige Information der Alten Schwestern zur Entwicklung der entsprechenden Institution und ihres Netzwerks. JedeR will ja irgendwann wissen, ob sich sein/ihr Engagement lohnt bzw. noch nötig ist. Dazu muss eine Adressdatei geführt werden und regelmäßig, mindestens einmal im Jahr, ein Bericht verschickt und zu einem Treffen eingeladen werden. Dafür bedarf es viertens einer verantwortlichen, zuverlässigen und erreichbaren Person.

Nach den bisherigen Erfahrungen macht es keinen Sinn, ohne solche Regelungen an Leute heran zu treten. Fragen wie „was wird mit dem Geld gemacht“, „wer kontrolliert das“, „wie erfahre ich, ob mein Geld noch nötig ist“ etc. kommen sowieso sofort. Auf einen Bekannten zu verweisen reicht spätestens dann nicht mehr, wenn die potentielle Alte Schwester diesen nicht persönlich kennt.

Absolut sicher und wasserdicht?

Juristisch einklagbar sind diese Regelungen nicht – dafür bräuchte es eine offizielle, vertragliche oder gesellschaftsrechtliche Struktur. Aber die Alten Schwestern können sich ja jederzeit zurückziehen und ihr Risiko ist angesichts der Summen gering. Außerdem handelt es sich bei allem Genannten um Einrichtungen, die noch nie als Anlage- und Bereicherungsobjekte taugten, sondern immer in und von der Szene ansprechbar waren. Persönliche Bereicherung erscheint da ziemlich ausgeschlossen bzw. absurd.

Aber es muss aus politischen Gründen genau geprüft werden, wie mit dem gesammelten Geld umgegangen wird. So erscheint es sinnvoll, den Buchladen zu entschulden und den ständigen Abfluss von Geld durch die Dispozinsen, welcher auch durch unsere Aktivität schon weniger geworden ist an die Bank zu verhindern. Dieser Abfuss muß auf Null (!) gesetzt werden und wir sind diesem Ziel schon ein gutes Stück näher gekommen. Je größer das Alte-Schwestern Netz und deren finanzielle Unterstützung wird desto schneller konvergiert das ganze. Ob es hingegen ein gutes Konzept wäre, die Kollektivistis dauerhaft aus Spenden zu finanzieren, ist eher fraglich. Das ist aber auch nicht nötig denn der Buchladen macht über die Jahre gemittelt ein leichtes plus, das aber so klein ist, das der Buchladen aus eigener Kraft nicht mit Sicherheit von seinen Schulden runterkommt. Und auch die GöDru müßte man nicht finanzieren, wenn sie nicht verteilt und gelesen werden würde. Die Netzwerke sind also eher eine defensive, die Infrastruktur der Szene erhaltende Strategie. Offensives Vorgehen, wie die Erweiterung des jeweiligen NutzerInnenkreises und die inhaltliche und organisatorische Weiterentwicklung bleibt eine politische Aufgabe.

Ziemlich anstrengend oder doch nicht

Klingt nicht unaufwendig. Ist es auch nicht. Aber es ist auch nicht so schwierig. Mensch sollte überlegen, was wir gewinnen können. Unsere Infrastruktur ließe sich absichern, möglicherweise sogar erweitern und durch das Kleinspendenkonzept bliebe die Infrastruktur unabhängig. Panische Rettungsaktionen, die ja auch nicht gerade easy going sind, wären nicht mehr nötig. Wir hätten auch mehr und festere Netzwerke zu den vielen „Alten“, die möglicherweise auch für andere Aktivitäten mobilisierbar wären. Das jährliche Treffen der Alte-Schwestern-Netzwerke könnte eines Tages zu einem Event des Wiedersehens und neu kennen lernens werden.

Die hiesige Szene ist ein Durchlauferhitzer für die linksradikale Szene weit über Göttingen hinaus und zeichnet sich durch eine vergleichsweise gut entwickelte Diskussions- und Kooperationskultur aus. Das Potential, unsere Einrichtungen mit Alte-Schwestern-Netzwerken abzusichern ist sicher da. Wir müssen uns nur wieder daran machen, auch einmal dauerhaftere und verbindliche Projekte auf die Beine zu stellen. Ohne das hätte es den Buchladen nie gegeben.

Soweit unser erstes Plädoyer.

Schöner Leben Göttingen in Zusammenarbeit mit der Buchladen Soligruppe, März 2008

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